Hiddensee: Insel ohne Autos?

Wenn Ihr Fragen habt zu: Öffnungszeiten oder allgemeine Fragen zur Insel Hiddensee, dann könnt Ihr diese hier stellen.
Benutzeravatar

Themenstarter
Insulaner
Verified
Administrator
Beiträge: 739
Registriert: 17.04.2005 17:37
Wohnort: Insel Hiddensee
Kontaktdaten:

Hiddensee: Insel ohne Autos?

„Paradies Hiddensee. Eine beneidenswerte Gegend. Der Kradfahrer ohne Kennzeichen, seine Aktentasche am Lenker, hat nicht einmal eine Fahrerlaubnis. — Ist auch nicht nötig, denn auf Hiddensee gibt es weder Straßen noch Autos, folglich keinen öffentlichen Straßenverkehr. Kradfahrer ist der bei allen Inselbewohnern beliebte Dr. Wilhelm Ehrhardt, Chirurg, Internist, Geburtshelfer, Zahnarzt und Geländefahrer in einer Person. Mit der Jawa besucht er seine auf der Insel weit verstreut wohnenden Patienten. Über Probleme der Vorfahrt braucht er sich auch nicht den Kopf zu zerbrechen, denn querfeldein gibt es genug Ausweichmöglichkeiten, selbst wenn ihm einmal das einzige, außer seiner Jawa, noch auf der Insel existierende Motorrad der Volkspolizei begegnet. Dem Inseldoktor weiterhin gute Fahrt! Hoffentlich bald mit Geländereifen, die er bisher noch nicht erhalten konnte."

Dieser Text stand unter einem Foto, das Dr. Ehrhardt mit seiner Jawa zeigte. Es wurde im Heft 10/1957 unserer Zeitschrift veröffentlicht. Geht es heute, 22 Jahre später, noch so paradiesisch zu, oder ist die Geschichte von der autofreien Insel inzwischen eine Mär geworden, oder wie man dort oben im Norden sagt, Seemannsgarn?

Bestandszunahme

Der jetzige Inseldoktor, Dr. Kallius, amtiert seit 1962. Er brachte damals eine MZ RT 125/3 mit, für die er dann auch Geländereifen erhielt.
Wegen dieser Reifen fährt er diese Maschine heute noch, wenn er „in die Heide" muß. Im letzten Winter wühlte er sich mit dieser schier unverwüstlichen Maschine durch den Schnee.
Für den Krankentransport steht ihm inzwischen ein B 1000 zur Verfügung. Damit bringt er schwere Fälle zum Schiff.
Zu den dienstältesten Fahrzeugen auf der Insel zählt auch der Roller „Berlin" des Leuchtturmwärterehepaares Hoerenz, mit dem es dienstlich zu den entlegenen Feuern fährt. Im Laufe der Zeit wurden aus dem Polizeimotorrad zwei Kleinkrafträder für die beiden Abschnittsbevollmächtigten. Auch dem Bürgermeister steht inzwischen ein Dienstmoped zu.

Der jetzige, Rainer Barth, verzichtet aber auf dessen Benutzung. Er fährt lieber Fahrrad. In den 60er und 70er Jahren erweiterte sich der Fahrzeugpark der Insel um Fahrzeuge für die Landwirtschaft und die Versorgung im weiteren Sinne. So fahren heute auf Hiddensee Traktoren und landwirtschaftliche Spezialgeräte, kleinere und größere Lkw (vom Multicar über den B 1000 bis zum Müllauto, W 50 und Schulbus). Auch zwei Trabant-Kübel schnurren über die Insel. Die Fahrzeuge gehören dem Rat der Gemeinde, dem Volkseigenen Gut, den Instituten und Betrieben, die auf Hiddensee ansässig sind bzw. dort Zweigstellen eingerichtet haben.

Rainer Barth, der im übrigen Wert darauf legt, Bürgermeister der Gemeinde Insel Hiddensee zu sein (weil ja in der Tat Hiddensee die einzige „echte" Insel geblieben ist; alle anderen größeren Ausmaßes sind über Dämme und Brücken mit dem Festland verbunden), kommt bei einer überschlägigen Zählung auf etwa 25 vierrädrige Kraftfahrzeuge und sechs Kleinkrafträder, die ständig auf Hiddensee stationiert sind.

Seit fünf Jahren verkehren zudem weitere, zeitweilig für Fahrten auf der Insel zugelassene Fahrzeuge. 1974 wurde der Fährbetrieb zwischen Schaprode auf Rügen und Schwedenhagen (nahe Kloster) aufgenommen. Die Zahl der Fahrzeuge, die auf diesem Wege für meist einen Tag auf die Insel kommen, beläuft sich auf etwa 10 bis 15. Mehr als 50 Kraftfahrzeuge dürften einem also auf Hiddensee nicht begegnen. Zu dieser Zahl gesellen sich noch vier Pferdefuhrwerke und eine schlecht zu schätzende Anzahl von Fahrrädern. In jeder Inselfamilie existiert mindestens eins, manche Heime haben welche für die Urlauber, ein Fahrradausleih macht das Angebot von 100 Drahteseln, Urlauber bringen welche mit, und auch der Verfasser dieser Zeilen radelte dienstlich über das Eiland.

Verkehr — warum?
Wer Hiddensee in der autofreien Zeit kennengelernt hat, mag diese Entwicklung bedauern. Aber so, wie in alten Städten schön anzusehende Fachwerkbauten zwar etwas für Touristenaugen sind, nicht aber immer für ihre Bewohner, so gereichte die Autofreiheit den Inselbewohnern immer weniger zum Vorteil.
Deshalb klagen auch weniger die Einheimischen über die Motorisierung, sondern mehr die Besucher. Ein Traktorist meinte: „Es will doch keiner mehr hinterm Pferd gehen." Eben. Das Arzt-Motorrad war nie umstritten. Aber müssen es auch die Versorgungs- und Bau-Lkw sein? Konnte früher der Versorgungsverkehr noch mit Pferdefuhrwerken aufrechterhalten werden, so wäre das heute kaum mehr möglich. Einmal sind die Ansprüche der Einheimischen gestiegen (wer will es ihnen verdenken?), zum anderen wollen die zahlreichen Urlauber versorgt sein. Hiddensee zählt heute 1392 Seelen, eine Zahl, die über viele Jahre relativ konstant geblieben ist. Gestiegen sind aber die Urlauber- und Touristenzahlen. In der Hauptsaison bietet die Insel täglich 4000 Urlaubern und bis zu 3000 Tagesausflüglern Erholung.
Die meisten Kilometer auf der Insel spult sicher der Schulbus ab. Er „sammelt" früh die Kinder aus allen Teilen der Insel ein, bringt sie nach Vitte in die Schule und „verteilt" sie nachmittags wieder. Dazwischen fährt er z. B. Rentner und gehbehinderte Bürger in die Kaufhalle. Das sind soziale Errungenschaften, die keiner mehr missen möchte.

Viel Verkehr zieht auch die Bautätigkeit nach sich. Aber die Insel ist in ihrer Existenz bedroht, wenn die Küste nicht geschützt wird. Also bauen, also Verkehr.

Sonder-Verkehr
Das alles heißt nun nicht, Hiddensee wäre ein Verkehrsgebiet geworden wie jedes andere in der Republik. Denn zum einen ist nach wie vor jeder private motorisierte Straßenverkehr verboten, sind die zuständigen staatlichen Stellen bemüht, den notwendigen Versorgungsverkehr in Grenzen zu halten.
Wer als Inselbewohner ein Auto oder motorisiertes Zweirad kaufen möchte, kann das natürlich tun. Er darf dieses Kraftfahrzeug nur nicht mit auf die Insel bringen. Die meisten Kraftfahrzeugbesitzer Hiddensees haben ihre privaten Fahrzeuge in Schaprode stationiert. Nach dort ist die Schiffsverbindung am kürzesten. In Schaprode wurden und werden für die Hiddenseer Garagen gebaut.

Über den Einsatz der ständig auf der Insel stationierten Fahrzeuge entscheiden die jeweiligen Betreiber selbständig, also der Rat der Gemeinde und die Betriebe. Aus Gesprächen mit Einheimischen und Urlaubern war der Verdacht herauszuhören, daß da wohl nicht immer nur unbedingt notwendige Dienstfahrten unternommen werden ... Es wird sicher nicht zu umgehen sein, daß sich die Insel im eigenen Interesse ihr eigenes Kontrollsystem schafft. In das müssen dann natürlich auch die nur
zeitweilig auf der Insel fahrenden Autos bezogen werden.

Will man der biblischen Uberlieferung glauben so fand das Paradies sein Ende, als Eva undiszipliniert verhielt und der Versuch nicht widerstand. Was für Eva der Apfel war, ist für die Hiddenseer heute die Motoisierung. Ihr im möglichen und notwend Maße zu widerstehen, erspart ihnen und allen einen modernen Sündenfall, erhält Paradies in Bruchstücken.
Was zeitweilig zusätzlich auf Hiddensee kehren darf, entscheidet der Rat des Kn Rügen. Die Beförderung dieser Fahrzeuge folgt mit dem Schubboot Rassow—Libben.

Kapitän Heinz Gau könnte bis zu 120 t laden. Platz ist auf der Schubeinheit für vier W50 und zwei B 1000 bzw. Robur und knapp 50 Passagiere. Die Versorgungsbetriebe (Fleischkombinat, Brot- und Backwaren, Molkerei, GHG Waren des täglichen Bedarfs, VEB Fischwirtschaft, Deutsche Post, Wirtschaftsvereinigung Obst-Gemüse-Südfrüchte) haben Stammplätze auf der Fähre, andere, insbesondere Dienstleistungsbetriebe (so der RFT-Kundendienst, Kühlanlagen-Kundendienst, Energiekombinats- und Postentstördienst) werden entsprechend der Kapazität und Dringlichkeit zugelassen.

Seit es diese Fährverbindung gibt, kommen nun auch die leichtverderblichen Waren ebenso frisch in die Verkaufsstellen Hiddensees wie anderswo auf dem Festland (z. B. durch die geschlossene Kühlkette). Der Hiddenseer kann keine Geräte zur Reparatur bringen. Er „läßt kommen".

Für Pkw-Fahrten zu Verwaltungsaufgaben werden keine Genehmigungen erteilt. „Pfiffige" Betriebe und staatliche Einrichtungen haben daraufhin den B 1000, der ja der kleinste Lkw ist, zur Personenbeförderung auf der Insel eingesetzt, ihn praktisch als Pkw genutzt. Es ist zu begrüßen, daß dieser Unsitte Einhalt geboten wird. Es gab zwei Ordnungsstrafverfahren, und die Fährordnung ist dahingehend geändert worden, daß der B 1000 nunmehr als Pkw gerechnet wird und nicht mehr auf die Insel darf.

Verkehrswege
Hiddensee ist also nicht mehr autofrei. Kein Wunder, daß es da inzwischen auch eine Straße gibt. Sie wurde in den Jahren 1972/73 gebaut und zieht sich im wesentlichen als Betonband von Neuendorf bis zum Leuchtturm im Dornbusch. Zum Verdruß der Insulaner und auch der zahlreichen Gäste blieb sie aber zwischen Vitte und Kloster auf 200 bis 300 m unvollendet. Sehnlichster Wunsch des Rates der Gemeinde und auch des Rates des Kreises ist es, diese Lücke zu schließen. Da man sowohl in Vitte als auch in Bergen um die Begrenztheit von Baumaterial weiß, sind schon Vorstellungen entwickelt worden, örtliche Reserven (Schotter von der Wittower Fähre und Kies von der Insel) zu nutzen. Auch Fahrzeuge und Baumaschinen sind auf der Insel. Sie unterstehen aber bezirksgeleiteten Betrieben. Also bedarf es eines Beschlusses in Rostock, beim Rat des Bezirkes. Ob das nicht zu machen ist?

Der Bau der Betonstraße hat übrigens dem Inseldoktor zusätzliche Arbeit beschert. Früher fielen nicht immer ganz nüchterne Radfahrer hin und wieder in den Sand, heute auf harten Beton ... Abseits dieser „Hauptstraße" rollt der Verkehr weiterhin über mehr oder minder sandige Wege. In Kloster ärgern sich Einwohner und Gäste über die Verkehrsführung von der Anlegestelle des Schubbootes nach Vitte und Neuendorf. Dieser Verkehr nimmt größtenteils seinen Weg über die unbefestigte Straße, wirbelt viel (zu viel!) Staub auf und verursacht auch eine Menge Lärm. Dabei besteht schon eine Umgehungsstrecke. Sie wird nur nicht genutzt. Es müßte dafür gesorgt werden (per Verkehrszeichen oder Anweisung), daß der Verkehr diese Strecke nicht länger ignoriert. Auch hier wäre Kontrolle vonnöten.

Verkehrsdisziplin
Wer heute auf Hiddensee ein Kraftfahrzeug lenkt, braucht nun auch eine Fahrerlaubnis.

Einige davon mußten allerdings schon wieder eingezogen werden, wegen Trunkenheit am Lenkrad. Die Insel kann sich jedoch rühmen, ein (fast) unfallfreies Gebiet zu sein. Man kann sich nur an einen Unfall erinnern, an dem ein Kraftfahrzeug beteiligt war. Vor Jahren hat ein unter Alkohol stehender Traktorist eine Frau angefahren, der glücklicherweise nicht viel passierte.

Ob das, was heute auf Hiddensee stattfindet, öffentlicher Straßenverkehr genannt werden kann, weiß keiner so recht. Verkehrszeichen gibt es zur Zeit nur drei, drei Ortseingangszeichen in den drei Häfen. Sie haben sicher mehr informotorischen denn verkehrsrechtlichen Charakter. Es hat auch schon einmal ein Geschwindigkeitszeichen gegeben. Es wurde kurioserweise gerade vom Altstoffhandel demoliert.

Jetzt ist ein Verkehrszeichen nach Bild 261 der StVO geplant, das Höchstgeschwindigkeiten für das Gebiet Insel Hiddensee festlegen wird, 30 km/h für Ortschaften, 50 km/h für außerhalb.

Nun braucht man allerdings noch jemand, der sagen kann, wo auf der Insel eine Ortschaft endet. Sicher ist es nicht notwendig und dem Charakter der Insel nicht dienlich, auf dem in sich geschlossenen Gebiet Hiddensee (einem großen Betriebsgelände vergleichbar), alle verkehrsorganisatorischen Gepflogenheiten des Festlandes einzuführen. Die Regelungen müssen aber so klar getroffen werden, daß es zu keinen unfruchtbaren Streitigkeiten kommen muß.

Das Verhältnis Fußgänger/Kraftfahrer und auch Radfahrer stellt sich auf Hiddensee in einer ganz spezifischen Weise dar. Der aufmerksame Beobachter und Zuhörer kommt dabei zu dem Schluß, manche Urlauber und Tagesausflügler lebten noch im Zeitalter der Maschinenstürmerei bzw. des Motorisierungsbeginns überhaupt. Offenkundig im Glauben, auf der Insel gibt es keine Fahrzeuge, nehmen die Fußgänger die Betonstraße ganz für sich in Anspruch. Solche Fußgänger reagieren dann weder auf die Motorengeräusche noch auf Hupzeichen. Die Kraftfahrer sind ob solcher Ignoranz natürlich „sauer", und die Fußgänger schimpfen auf die Kraftfahrer, die nach ihrer Meinung nicht fahren dürften. Hier muß es wohl zu einem erheblichen Bewußtseinswandel kommen. Die Notwendigkeit des Fahrzeugverkehrs wurde begründet. Die Betonstraße ist natürlich in erster Linie für die Fahrzeuge gebaut worden. Daß sie so schmal ausfiel, hat etwas mit Kosten, aber sicher auch mit landschaftsgestalterischen Gesichtspunkten zu tun.

Beim Begegnen müssen Fußgänger und auch Radfahrer in den Sand. Gewiß, das kann lästig werden. Wer aber weiß einen anderen Weg?
Eine Einheimische wunderte sich, daß die Leute eigentlich auf die Insel kommen, um die urwüchsige Natur zu erleben, dann aber doch am liebsten auf dem Betonband entlang-spazieren. An dieser Meinung ist sicher etwas dran.

Andererseits bedarf es natürlich der besonderen Rücksichtnahme der Kraftfahrer gegenüber den Fußgängern. Die Kraftfahrer können sich auf dem schmalen Betonband nicht wie auf der Autobahn bewegen. Es ist zu hoffen, daß diese und vielleicht auch andere Informationen, die zum Abbau des Nimbus der angeblich autofreien Insel beitragen sollen, auch der Besserung des Verhältnisses Fußgänger/Kraftfahrer und Radfahrer dienen werden.

Was bleibt
Die Insel hat ihre Autos, die Autos haben Kennzeichen und ihre Straße, die Kraftfahrer haben ihre Fahrerlaubnis. Dennoch hat Hiddensee seinen Reiz nicht verloren. Noch immer lohnt eine Wanderung durch die Heide, ein Gang über den Dornbusch und ein Bummel am Strand. Auch paradiesisch geht es noch zu.

Wer möchte, kann sich unter die Evas und Adams mischen, die sich zwischen Vitte und Neuendorf und am Bessin tummeln. Und ein Glas Bier im „Enddorn", der „Heiderose" oder einer anderen Gaststätte ist auch für den Kraftfahrer auf Besuch keine Sünde, denn sein Auto steht ja notgedrungen oder zum Glück drüben auf dem Festland.
Was bleibt, ist auch ein herzliches Dankeschön an des Rat des Kreises Rügen, namentlich Kollegen Peter Kluge und an den Bürgermeister
der Gemeinde Insel Hiddensee, Rainer Barth, für die hilfreiche Unterstützung unserer Arbeit.

Klaus Zwingenberger


___________________________________________
Aus "DER DEUTSCHE STRASSENVERKEHR 8/1979"
  • Vergleichbare Themen
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag